Rothenburg ob der Tauber – auf den Spuren des Henkers
In Rothenburg war ich im Kindergartenalter mal zu Besuch. Ich kann mich ganz dunkel an eine Art Turm oder Mauer erinnern. Etwa 35 Jahre später sieht Rothenburg wohl gar nicht mal so sehr anders aus als damals – zumindest nicht die Altstadt mit der eindrucksvollen und erstaunlich intakten Stadtmauer aus dem Mittelalter. Ich kann nicht behaupten, dass ich meine Erinnerungen auffrischen wollte, denn es waren kaum welche vorhanden. Ich ging also unvoreingenommen auf Rothenburg zu. Das einzige Vorurteil, das ich hatte, war, dass es sich bei Rothenburg ob der Tauber um eine der schönsten und am besten erhaltenen mittelalterlichen Städte Europas handelt.
Rothenburg ob der Tauber ist besonders charmant im Abendlicht. Selten habe ich so viele Fachwerkhäuser auf einem Haufen gesehen. Die Stadtmauer ist geradezu pittoresk. Auf einem historisch authentischen Wehrgang kann man fast um die gesamte Altstadt herumlaufen. Das muss es gewesen sein, was mich als kleines Kind so sehr begeistert hat, dass ich mich sogar an Architektur erinnere.
In Rothenburg gibt es in vielen kleinen Bäckereien diese faustgroßen Süßigkeiten, die sie Schneeball nennen. Die sehen verlockend aus. Also habe ich einen gekauft für 3,20 Euro, der beschrieben war als ein Schneeball mit Schokoladenglasur und Karamellfüllung. Umso größer war meine Enttäuschung, als ich feststellen musste, dass dieses Gebäck staubtrocken ist. Es konnte weder die Rede von Karamell noch von Füllung sein. Ein großer Betrug. Ich habe nicht mal 10% des Gebäcks gegessen.
Zu den positiven Erfahrungen in Rothenburg gehörte, dass in dem kleinen gemütlichen und irgendwie sehr bayerischen Hotel sehr großer Wert auf die Corona-Sicherheitsmaßnahmen gelegt wurde. Ich fühlte mich umsorgt und sicher. Und das Desinfektionsmittel, dass sie dort hatten, roch so unheimlich gut. Unglaublich.
Am Abend kann ich allen, die Rothenburg besuchen, nur die allabendliche Stadtführung mit dem Henker ans Herz legen. Der mittelalterliche Henker taucht in voller Montur auf und führt unbedarfte Bürger durch sein Reich. Er hat ein paar echt klasse Geschichten auf Lager. Ich erfuhr, dass Henker ein Vollzeitjob war, auch wenn nur alle paar Monate mal wirklich ein Todesurteil vollzogen werden musste. In anderen Städten war es vielleicht auch mehr, aber in Rothenburg ob der Tauber war die Stadtverwaltung recht verantwortungsbewusst und realistisch, schließlich wollte man die Bürger nicht allzu sehr dezimieren. Sie zahlten schließlich die Steuern. An den Tagen, da niemand enthauptet wurde, hatte der Henker andere Aufgaben: öffentliche Demütigungen, Folter zur Erzwingung von Geständnissen, Durchführung von anderen Urteilen wie das Ausstechen von Augen oder das Abhacken von Händen. Am Abend übernahm der Henker die Aufgaben eines Heilers, weil er derjenige in der Stadt war, der die besten anatomischen Kenntnisse hatte. Wer eine Schulter auskugeln kann, kann sie auch wieder einrenken. Klingt logisch.
So erfahre ich auch, dass Henker im Mittelalter wie andere Handwerker auf Wanderschaft und in die Lehre gingen. Sie trieben sich ein paar Jahre in Deutschland herum, übernahmen Aufgaben bei Massenhinrichtungen in anderen Städten zu Trainingszwecken oder schauten den Meistern ihres Faches bei der Arbeit zu. Es gab etwa 50 Dynastien von Henkern, denn ein solcher Beruf vererbte sich vom Vater an den Sohn. Da niemand einen Henker heiraten wollte – er war schließlich wenn auch relativ wohlhabend, geächtet und der unbeliebteste Bürger der Stadt – gab es zwei Möglichkeiten für einen Henker, eine Braut zu suchen. Erstens: von der Wanderschaft bringt er eine Henkerstochter aus einer anderen Stadt mit. Zweitens: eine zum Tode verurteilte Straftäterin willigt ein, ihn zu heiraten und darf weiterleben. Offenbar haben erstaunlich viele Frauen in Rothenburg ob der Tauber den Tod gewählt.
Genug vom Henker. Kulinarisch kann ich über Rothenburg ob der Tauber leider kaum etwas Gutes sagen, denn ich habe am Ende außer den 10% eines Schneeballs nur einen Falafel-Wrap gegessen. Alles andere erschien mir zu herzhaft-deftig-deutsch für eine laue Sommernacht und außerdem recht überteuert.
Trotzdem kann ich euch dieses Reiseziel ans Herz legen, denn romantisch und spektakulär historisch ist Rothenburg auf jeden Fall. Hier gelingt das perfekte Mittelalter-Foto.
Eure Beatrice!